Zeit der wilden Rosen

Zeit der wilden Rosen – Serena Avanlea

 

Zeit der wilden Rosen

 

Ein bezaubernder Rosengarten.

Ein charmantes Herrenhaus.

Aber welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Fassade?

 

Südengland, 1952.
Schon nach dem ersten Tag in der Rose Hill Psychiatrie weiß Caitlin nicht mehr,
wie sie es dort aushalten soll. Auch wenn sie Freude daran hat, in ihren freien
Stunden den verkommenen Rosengarten wiederherzurichten, ist ihr schon bald klar,
dass die brutalen Therapiemethoden selten hilfreich sind. Erst als ein neuer
Arzt im Sanatorium auftaucht und sich rigoros gegen die menschenunwürdigen
Therapien einsetzt, scheint es einen Lichtblick zu geben. Aber ist das dunkle
Geheimnis, das er mit sich herumträgt, am Ende schlimmer als alles
andere?

Jahrzehnte später reist die junge Ärztin Dalina aus den USA nach England, um das Erbe ihrer
Großmutter anzutreten. In dem leerstehenden Herrenhaus blättert die Tapete von
den Wänden und zwischen den heruntergekommenen Möbeln findet sie immer mehr
grauenvolle Hinweise, die sie alles, was sie über ihre Großeltern wusste,
infrage stellen lassen. Schon bald drängt sich die Frage auf:

Was geschah zu der Zeit, als die wilden Rosen noch blühten?

 

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Du bist neugierig geworden?

Dann wirf doch einen Blick in mein Buch.
1. Kapitel –  Caitlin

 

Einen Ort wie diesen hatte ich mir anders vorgestellt. Auch wenn ein massives Tor bewies, dass man hier nicht so einfach hereinkam.

Und vermutlich auch nicht heraus.

Aber was hatte ich denn erwartet? Einen Gebäudeklotz mit Gittern vor den Fenstern? Von der Rückbank unseres Bentleys beobachtete ich meinen Vater. Mit festen Schritten ging er auf das Tor zu, meldete uns über eine hochmoderne Sprechanlage an und kurz darauf schwang es auf. Wie immer hatte er einen dunkelbraunen Anzug an. Fünf Jahre nach Mutters Tod trug er immerhin kein schwarz mehr, aber über dunkelbraun war er nie hinausgekommen.

Als er zum Auto zurückkehrte, warf er mir ein Lächeln zu. Glaubte er wirklich, ich würde nicht bemerken, wie aufgesetzt es war?

»Da wären wir also endlich.«

Ich schwieg.

Er startete das Auto und die Kieselsteine knirschten unter den Reifen, als er die lange Auffahrt hochfuhr.

Das Herrenhaus aus soliden Kalksteinen zeichnete sich vor dem Himmel ab. Mit seinen Bogenfenstern aus weißem Holz schien es unsere Ankunft genau zu beobachten. Obwohl der Wein, der am Gebäude hochkletterte, momentan keine Blätter trug, gab er dem Haus etwas Idyllisches.

Trotzdem würde ich unter gar keinen Umständen hierbleiben.

»Sieht doch ganz nett aus, oder?«

Ich betrachtete die Spitzdächer mit den Verzierungen, die zahlreichen kleinen Schornsteine und die wild wuchernden Pflanzen im Vorgarten. Mich überkam der Wunsch, die Rosen so zurückzuschneiden, wie Mutter es mir gezeigt hatte, das Unkraut zu entfernen und die ausufernden Büsche zusammenzubinden.

Aber deswegen waren wir nicht hier.

Vater stieg ohne zu zögern aus. Danach öffnete er meine Tür und nickte in Richtung des Eingangs. Er wurde von zwei Säulen, über denen sich die Terrasse des Obergeschosses ausbreitete, überschattet. Ich atmete tief ein und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Die kühle Luft roch nach nassem Gras und schaffte sofort Platz in meinem Kopf – sie war so vollkommen anders als in London. Kurz bevor wir die Tür erreichten, ertönte ein gellender Schrei, der mich zusammenzucken ließ. Ich blieb stehen. Was war das? Es klang, als würde jemand unerträgliche Schmerzen erleiden. Ich lauschte, ob noch etwas zu hören war, aber nur der Wind raschelte leise in den Bäumen.

Mein Vater drehte sich mit zusammengepressten Lippen zu mir um. Er legte eine Hand auf meinen Rücken, während wir die letzten Meter zur Tür gingen, als bestünde die Gefahr, dass ich ihm sonst davonlaufe.

Tatsächlich hatte ich bereits darüber nachgedacht. Aber wo sollte ich hinlaufen? Der Krieg hatte nicht nur uns mit einem Bruchteil dessen zurückgelassen, was wir einmal hatten. Besitztümer eingeschlossen. Und wer würde einer wildfremden jungen Frau helfen, die regelmäßig durchdrehte? Sogar ohne meine Anfälle wäre es schwierig, irgendwo unterzukommen.

Er atmete tief ein und betätigte mit einem lauten Pochen den kreisrunden Türklopfer, der in der Mitte von einer Rose geziert wurde. Nach einigen Minuten öffnete uns eine rundliche Frau mit geröteten Wangen und freundlichen Augen. Ein paar gelockte Strähnen lugten unter ihrem weißen Häubchen hervor.

»Guten Tag, wir haben einen Termin bei Professor Berker«, erklärte mein Vater.

Die Frau trat zur Seite, um uns einzulassen. »Ich werde Sie anmelden, bitte folgen Sie mir.«

Im Vorraum schlug mir ein eigentümlicher Geruch entgegen. Eine Mischung aus altem Holz und Seife. Auf der linken Seite wurde der kleine Raum von einer Wand aus riffeligen Milchglas abgetrennt, rechts war eine Flügeltür in die geflieste Wand eingebaut. Zielstrebig ging sie hindurch und führte uns in einen langen Flur, von dem links und rechts alle fünf Schritte eine Tür abging. Jede einzelne von ihnen war geschlossen.

Nachdem wir sieben oder acht passiert hatten, blieb die rundliche Frau stehen und klopfte an die Tür zu ihrer Rechten.

Ein Herr öffnete sie und verzog seinen Mund sogleich zu einem Lächeln. Sein Körper wirkte gedrungen und die Halbglatze passte nicht zu dem üppigen dunklen Vollbart, dessen Oberhaare reinweiß waren. Mit offenen Armen ging er auf meinen Vater zu und ergriff seine Hand. »John, ich freue mich, dich zu sehen! Wie lange ist es her?«

»Es müssten bald zehn Jahre sein.«

»Kinder, Kinder, wie die Zeit vergeht.«

Er streckte auch mir seine Hand hin und als ich sie entgegennahm, hätte ich sie am liebsten sofort fallengelassen, denn sie fühlte sich wie ein ausgetrockneter Fisch an.

Die Schwester zog sich diskret zurück und er bat uns, in seinem Büro Platz zu nehmen. Er setzte sich hinter einem dunklen Schreibtisch in einen Holzstuhl mit Lederbezug auf der Sitzfläche, der ihn wie einen Thron wirken ließ. Ich schaute durch das vergitterte Erkerfenster, das hinter ihm lag und beobachtete, wie die grauen Wolken gemächlich über den Himmel zogen, während sich die beiden unterhielten. Erst als der Name meiner Mutter fiel, horchte ich auf.

»Es tut mir so leid, was mit Mary passiert ist. Als ich es gehört habe, hat es mir das Herz gebrochen.«

Mein Vater senkte den Blick. »Wir alle mussten Verluste erleiden.«

Seine Standardantwort, um schnell das Thema zu wechseln.

Von meinem Platz aus versuchte ich, die Titel der Bücher in dem schlichten Regal aus Kirschholz zu entziffern.

Moderne psychiatrische Methoden in der Anwendung

Psychochirurgie als Verfahren zur Heilung von Wahnvorstellungen

Insulinkuren zur Behandlung von Schizophrenie – Eine kontrollierte Studie

Überwiegend psychologische Themen. Keine Überraschung.

»Und du bist also unser Problemkind?« Der Professor sah mich an, als hätte er mir soeben ein Kompliment gemacht.

Ich beschloss, nicht zu antworten. Mit zwanzig Jahren empfand ich mich nicht mehr als Kind – auch wenn ich es vom Gesetz aus war.

»Ja, Caitlin hat seit mehreren Jahren immer wieder diese Anfälle.«

Seit Mutters Tod,ergänzte ich in Gedanken, aber das ließ er natürlich unerwähnt. Ich hatte ebenfalls keine Lust zu besprechen, in welcher Schockstarre er mich hinterlassen hatte. Ich würde den Geruch des Kellers nie vergessen, in dem ich hilflos alles hatte mit ansehen müssen.

»In den letzten Monaten hat es sich verschlimmert. So langsam weiß ich mir nicht mehr zu helfen.« Vater griff nach meiner Hand und drückte sie kurz. »Dabei will ich einfach nur, dass es ihr gut geht.«

»Hmm.« Professor Berker nickte verständnisvoll. Lächelnd wandte er sich wieder an mich. »Na, was machen wir denn mit dir, außer notschlachten?« Umgehend brach er in ein bellendes Gelächter aus.

Ich bedachte ihn mit einem angewiderten Blick, doch erst als er Vaters Entsetzen sah, erstarb sein Lachen. Er räusperte sich. »Nur ein Scherz, selbstverständlich.« Danach rückte er seine Brille zurecht und wurde ernst. »Man sagt, dass Epilepsie so alt ist, wie die Menschheit. Es gibt mittlerweile verschiedene Therapieansätze. Wir, als private Institution, können es uns erlauben, nach den neusten Therapiemethoden zu arbeiten. Ein Luxus, den sich die Sanatorien in öffentlicher Hand nicht leisten können.«

Mein Blick fiel auf den hölzernen Schädel auf dem Schreibtisch, dessen Oberfläche in viele kleine Bereiche eingeteilt war, auf denen unterschiedliche Namen standen.Ehrgeiz, Fleiß, Hingebung las ich unter anderem.

Professor Berker war meinem Blick gefolgt und strich liebevoll über den Kopf. »Phrenologie gehört leider nicht mehr dazu. Es ist ein Erbstück meines Großvaters. Zu seiner Zeit war es modern, von der Schädelform auf den Charakter zu schließen. Heute wissen wir, dass es ganz so einfach nicht ist.« Wieder dieses bellende Lachen. Er warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr und stand auf. »Kommt, ich führe euch herum. Dabei kann ich am besten zeigen, was Rose Hill zu bieten hat.«

»Sehr gern.« Vater erhob sich enthusiastisch und auch ich stand langsam auf. Der Professor führte uns zurück in den Flur und deutete auf eine weiß lackierte Eisentür am Ende des Ganges. »Rechts von uns sind die Therapieräume, dort dürfen wir jedoch nicht stören.« Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein und wir folgten ihm in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Momentan befinden wir uns im Südflügel, wir nutzen ihn als Verwaltungsbereich. Das gesamte Personal hat hier seine Räume und die, die auf Rose Hill wohnen, auch ihre Schlafzimmer. In diesem Bereich ist außerdem der Aufenthaltsraum der Schwestern und Assistenzärzte – was momentan allerdings nur einer ist. Wir sind leider etwas unterbesetzt, erwarten aber baldige Verstärkung.« Er öffnete die Tür vor der riesigen Flügeltür, durch die wir gekommen waren. »Ah, Edmond, hervorragend!«, sagte er zu einem gut gebauten jungen Mann mit hellblonden Haaren. »Darf ich dir John und Caitlin Montgomery vorstellen? Caitlin wird eine Weile bei uns verbringen.«

»Ach ja?« Mit wachsamen Echsenaugen glitt sein Blick über meinen Körper und ich zog meinen Mantel enger an mich heran. »Was fehlt der Kleinen denn?«

Professor Berker schien die Bemerkung nicht unangemessen zu finden, sondern lustig. »Die Gute leidet an Fallsucht. Aber das werden wir schon hinbekommen.« Er zwinkerte mir zu.

»Mit welchen Therapien arbeitet ihr denn hier?«

»Rose Hill hat sich den neusten und wirksamsten Therapiemethoden verschrieben.« Seine Stimme klang sehr fachmännisch. »Ich halte mich bezüglich medizinischer Entwicklungen regelmäßig auf dem Laufenden und lese die medizinischen Publikationen zum Thema. Deswegen genießen die hiesigen Patienten den Luxus, dass wir sogar Hydrotherapien, also Wasserheilkunde, einsetzen und mit Insulinkuren arbeiten. Künftig wollen wir die Therapieformen auch noch weiter ausbauen.«

Er holte sich von meinem Vater ein anerkennendes Nicken ab, bevor wir weitergingen, und öffnete die Flügeltür auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs. Wir betraten einen riesigen Raum, mit mindestens fünfzehn Bogenfenstern. Die himmelblaue Decke wurde von weißen, halbrunden Streben durchzogen und in der Mitte mit dunkeln Stuckelementen verziert. Am Ende der Halle gab es sogar eine Bühne. Die wenigen Möbel, es standen nur ein paar Tische und Stühle herum, wirkten verloren.

Aber nicht so verloren, wie die Menschen hier drin.

In einer Ecke saß eine dunkelhaarige Frau mit leerem Blick und wiegte sich stumm hin und her. Kurz vor der Bühne lag eine Frau in einem verwaschenen Kleid bewegungslos auf dem Boden –doch weder der Professor noch die grauhaarige Krankenschwester, die an einem von zwei Tischen mit weiteren Patienten saß, schenkte ihr Beachtung. An der gegenüberliegenden Wand saß ein kahlköpfiger Mann auf einen umgedrehten Stuhl. Er hatte seine Arme auf die Lehne gelegt und seinen Kopf darin vergraben.

»Da staunt ihr, was? Der Aufenthaltsraum, oder Dayroom, wie wir ihn auch nennen, ist das Herzstück vom Rose Hill Sanatorium. Böse Zungen könnten behaupten, dass das alles« –er deutete an die stuckverzierte Decke – »viel zu schade für ein Irrenhaus ist, doch für mich ist das Beste für die Patienten gerade gut genug.«

Ich wunderte mich, dass selbst er den Begriff »Irrenhaus« verwendete, blieb aber still. Immerhin schien er sich tatsächlich um die Patienten zu bemühen.

Plötzlich erfüllte ein lautes »Aeeeh!« den Raum und ich zuckte zusammen. Professor Berker lächelte entschuldigend. »Das passiert hier schon mal.« In Richtung der am Boden liegenden Patientin rief er: »Alles okay, Lucinda!«

Er setzte sich wieder in Bewegung, als die Tür, durch die wir gekommen waren, aufflog und ein junger Mann mit kurzen dunklen Haaren hereinkam. Seine Augen waren rund und an den inneren Augenwinkeln hat er eine sichelförmige Hautfalte. Als er mich entdeckte, strahlte er über das gesamte Gesicht und rannte auf mich zu. Unsicher wich ich einen Schritt zurück, doch das hinderte ihn nicht daran, mich fest in seine Arme zu ziehen und an sich zu drücken.

»Schööööön«, rief er und griff in meine welligen Haare. »Blond! Monty will auch blonde Haare.«

Der Professor kam und zog ihn von mir weg. »Jetzt lass mal das Mädchen, Monty. Ihr habt noch genug Zeit, euch kennenzulernen.«

Wir gingen weiter und betraten eine geräumige Küche. Die Frau, die uns geöffnet hatte, lief eifrig zwischen vorbereiteten Zutaten und Töpfen hin und her. Sie war also gar keine Krankenschwester, sondern Köchin.

»Na, was gibt es heute Leckeres, Marigold?« Professor Berker hob den Deckel eines Topfes und inspizierte den Inhalt, als würde er eine Untersuchung durchführen.

»Irish Stew«, antwortete sie leicht außer Atem.

»Das klingt köstlich.« Er klopfte ihr auf den Po, bevor wir die Küche verließen.

 

Kurz darauf betraten wir einen Schlafsaal, der von einem weiteren ellenlangen Flur abging. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. An jeder Wand standen fünfzehn Betten, kaum dreißig Zentimeter auseinander. Unter einigen Bettdecken zeichneten sich Körper ab und auf einem Bett saß ein glatzköpfiger Mann, der uns neugierig musterte. Eine Frau schreckte aus dem Schlaf hoch und blinzelte uns müde an.

Sollte ich etwa hier schlafen? Ich sah meinen Vater an, der genauso entsetzt wirkte. »Wird Caitlin hier schlafen?«

Berker schloss die Tür wieder hinter uns, bevor er antwortete. »Normalerweise schon. Unter diesen speziellen Umständen und weil Mary und ich«, er zögerte, bevor er weitersprach, »weil wir uns so gut kannten, will ich aber eine Ausnahme machen.« Wir schritten einen weiteren endlosen Korridor entlang. »Hier neben den Waschräumen gibt es noch ein paar leerstehende Zimmer. Ich werde Carl, unseren Hausmeister, beauftragen ein Bett herüberzuschieben.«

Vater wirkte erleichtert und ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Er kann wirklich nicht erwarten, dass ich hierbleibe.

»Ihr wundert euch sicherlich, dass wir nicht wie in den meisten großen Institutionen die Männer von den Frauen trennen«, sagte Professor Berker, während wir die Lagerräume besichtigten. »Das ist in einer kleinen Institution wie Rose Hill leider nicht machbar. Ich würde doppelt so viel Personal brauchen und wie gesagt, sind wir bereits unterbesetzt. Das macht aber nichts.« Er lachte auf. »Alles ist allein meine Entscheidung. Und es läuft gut, so, wie es ist.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Du wirst sehen, Caitlin, in ein paar Monaten bist du wieder komplett hergestellt.«

Monate? So lang wollte ich auf keinen Fall bleiben.

»Das wäre schön«, sagte mein Vater und lächelte liebevoll in meine Richtung.

Der Professor klatschte in die Hände. »Das war also mein bescheidenes kleines Anwesen.« Er rückte seine auffällige Uhr zurecht. »Warum werft ihr nicht einen Blick in den Garten, während Carl euer Gepäck reinbringt? Ich fürchte, ich muss mich nun wieder meinen Pflichten widmen. Melde dich bei Schwester Agnes, wenn du soweit bist, Caitlin!« Er deutete auf eine unscheinbare Tür. »Hier kommt ihr direkt in den hinteren Teil des Gartens.«

Nachdem wir die Tür passiert hatten, kamen wir in einen höher gelegenen Teil des Gartens, der von einer schmalen Mauer aus Feldsteinen umsäumt wurde. Kleine Trampelpfade führten durch wild wachsende Rosen und Buchsbäume. Es ließ sich noch erahnen, dass der Garten einmal wunderschön gewesen war, mittlerweile hatte das Unkraut aber eine stattliche Größe angenommen und die richtigen Pflanzen verdrängt. Hinter dem erhobenen Garten tat sich eine riesige Grünfläche auf, die den Blick auf einen See freigab. In der Ferne konnte ich zwei Graugänse sehen, die dort gemächlich ihre Bahnen zogen.

Ich merkte, dass Vater mich beobachtete, und sah zu Boden. Die Zeit wurde knapp. Mir musste jetzt etwas einfallen. Als wir am Ende des Mauergartens angekommen waren, stießen wir auf eine verwitterte Treppe, die mit kreisrunden Moosflecken übersät war. Links und rechts thronten ovale Blumenkübel auf zwei kleinen Säulen und dahinter tat sich ein Laubengang aus efeubewachsenen Säulen auf. Als wäre es abgesprochen gingen wir zeitgleich die paar Stufen nach oben, anstatt die offenen Wege auf dem Gelände einzuschlagen.

»Es macht doch alles einen sehr guten Eindruck«, sagte mein Vater schließlich.

»Bitte lass mich nicht hier!«, krächzte ich, da meine Stimme von dem vielen Schweigen noch nicht zurückgekehrt war.

»Caitlin …«, begann mein Vater.

»Bitte!«, flehte ich. »Wir können doch warten, bis in London ein Platz für mich frei wird. Die sind immerhin auf Epilepsie spezialisiert.«

»Und das hat seinen Preis.« Er senkte den Blick und ich spüre Mutlosigkeit durch meine Adern fließen. Mutters Tod und der meines Bruders, wenige Jahre zuvor, überschattete so viel, dass ich manchmal vergaß, dass wir auch alles andere verloren hatten. Geld spielte mittlerweile doch eine Rolle.

»Vielleicht bessert es sich auch so wieder.« Ich legte meine gesamte Hoffnung in meine Stimme.

»Ich weiß … dass du das hier nicht willst.« Er deutete auf das Herrenhaus, das uns mit seinen Bogenfenstern nicht aus den Augen ließ. Ich sah schemenhafte Bewegungen dahinter, sodass ich das Gefühl hatte, dass es lebte. »Aber wir haben es so oft diskutiert. Lass es uns also wenigstens versuchen.«

»Vater …«

»Drei Monate.«

Ich verschränkte die Arme und sah zum See.

»Bitte. Drei Monate, das ist alles, was ich verlange.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. Er wirkte so einsam und verlassen wie eine vereinzelte Trauerweide auf einer weitläufigen Wiese. »Deine Anfälle häufen sich immer mehr. Ich könnte es nicht ertragen, noch einen Menschen zu verlieren, den ich liebe.«

 

***

 

Schwester Agnes gab mir einen Stapel Bettwäsche und Laken und zeigte mir mein Bett. Im Schlafsaal.

»Professor Berker sagte, ich könnte ein eigenes Zimmer haben.«

Sie lachte auf.

»Nicht?«

»Darf es vielleicht auch noch Frühstück ans Bett sein? Wir sind ein Sanatorium, Liebchen, kein Hotel. Und jetzt mach dein Bett fertig.«

Es war ein einfaches eisernes Krankenhausbett auf Rollen, am Ende einer langen Reihe mit weiteren Betten. Meine Kleidung hing ich auf die Holzbügel in einen der schlichten Schränke, die an zwei Wänden des Raumes standen. Ich machte mich tatsächlich daran, das Bett zu beziehen. Früher hätte ich es nicht allein geschafft, aber seit wir durch einen Fliegerangriff unser Haus verloren hatten und wir ohne Angestellte auskommen mussten, war es kein Problem mehr. Ich war nur unschlüssig, was ich als Nächstes machen sollte.

Schließlich ging ich zur Aufenthaltshalle. Meine Schritte hallten im Flur wider und ich öffnete ein paar falsche Türen, bis ich sie fand.

Unschlüssig blieb ich am Eingang stehen. Mir bot sich ein ähnliches Bild wie zuvor am Nachmittag. Der Junge mit den auffälligen Augen sprang sofort auf und kam auf mich zu, als er mich entdeckte. Er rannte mir entgegen und schloss mich in die Arme. »Da bist du ja wieder!«

»Ja, … ich … werde eine Weile bei euch bleiben«, erklärte ich, während ich seinen Klammergriff von mir löste und mich nach der Schwester umsah. Doch sie half gerade einem langsam schlurfenden Mann auf dem Weg zum nächsten Stuhl.

»Toll!« Erfreut klatschte er in die Hände. »Wie heißt du?«

»Caitlin.«

Er schlang seine Arme erneut um mich und drückte mich fest. Mit weit von mir gestreckten Armen sah ich mich hilfesuchend um. Ich war so eine Nähe nicht gewohnt und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Doch keiner beachtete uns. Zum Glück ließ er schon bald darauf von allein von mir ab.

»Komm, ich zeige dir alle!« Er griff nach meiner Hand und zog mich durch den Saal. »Das ist Braylee.« Er deutete auf den glatzköpfigen Mann, der nun mit verschränkten Armen der Wand zugewandt saß und sie anstarrte. Monty zog mich näher an ihn heran und trat vor die Mauer, genau in sein Sichtfeld. »Guck mal, Braylee, wer jetzt bei uns ist.«

Der Glatzkopf runzelte die Stirn, verdichtete die Augen zu zwei Schlitzen und gab so ein tiefes Schnauben von sich, dass mir ein Schauer den Nacken herunterlief. Ich trat einen kleinen Schritt zurück.

»Das ist Caitlin. Ist sie nicht wunderschön?«, fragte Monty ungeachtet dieser Abwehrhaltung vollkommen unbefangen und ich wurde rot.

Braylee knurrte etwas und wandte sich wieder der Außenmauer zu.

»Komm, gehen wir weiter.« Erneut griff er nach meiner Hand. »Der da vorn mit dem gestreiften Hemd ist Flint und das hier ist Lorna.« Er blieb vor einer jungen Frau stehen, die dunkle Haare hatte und so blasse Haut, dass sie mit ihren starken Ringen unter den Augen gespenstisch aussah. Sie wirkte noch verlorener, als ich mich fühlte.

Monty stellte mich wieder überschwänglich vor, doch sie sagte nichts.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte ich, als die Stille unangenehm wurde.

Unendlich langsam hob Lorna den Kopf und studierte mein Gesicht. Ich zuckte beinahe zusammen, denn in ihren Augen stand reine Angst geschrieben – ein Ausdruck, den ich während der Fliegerangriffe im Luftschutzbunker allzu oft gesehen hatte.

»Ist … alles in Ordnung mit dir?«, flüsterte ich und merkte im gleichen Moment, wie unangemessen eine solche Frage hier war. Wenn alles in Ordnung wäre, wäre keiner von denen hier.

Sie antwortete nicht.

Nein, sie sah mich an, als sei ich die Verrückte. Aber vielleicht war ich das ja auch.

»Sie sagt nie was«, erklärte Monty. »Aber sie ist trotzdem meine Freundin«, er legte einen Arm um sie und sie ließ es geschehen.

»Oh, dort drüben ist Lucinda.« Zu meinem Entsetzen rannte er zu der hellblonden Frau, die am Boden lag, und redete auf sie ein.

Wie zu meiner Rettung schlug die Schwester nun auf einen Gong. »Rekreationszeit ist vorbei«, rief sie im Befehlston in den Raum. »Wir begeben uns jetzt alle in den Schlafsaal.«

Ich unterdrückte ein Seufzen der Erleichterung und verließ eilig den Raum, bevor dieser seltsame Junge mich mit noch mehr Umarmungen überhäufen konnte. Kurz vor der Tür sah ich noch mal zurück zu Lorna, doch die war schon wieder in ihre eigene Welt abgedriftet.

Und wo war meine Welt? Hier gehörte ich jedenfalls nicht hin. Niemals würde ich es monatelang aushalten. Ich hatte zwar Probleme, aber ich war nicht so wie die Menschen hier.

Im Schlafsaal waren alle damit beschäftigt sich bettfertig zu machen. Mein Nachbar lag schon unter der Decke und hatte die Augen geschlossen. Keine der Frauen schien sich daran zu stören, dass hier auch Männer im Raum waren. Verstohlen suchte ich das Nachthemd und meine Waschsachen aus meinem Koffer und zog mich ins nächste Badezimmer zurück. Auf keinen Fall würde ich vor dreißig Leuten meine Kleidung ablegen.Nachdem ich zurückgekehrt war, legte ich mich gerade rechtzeitig unter die gestärkte Bettwäsche und rollte mich zusammen, denn kurz darauf ging das Licht aus. Ich rieb meine kalten Füße aneinander, erst jetzt wurde mir bewusst, wie laut es im Schlafsaal war. Da war ein Wispern, mehrere Schnarcher übertrumpften sich gegenseitig und wurden vom leichten Röcheln untermalt, ein Rascheln und Knistern. Aus dem Bett zu meinem Kopfende hörte ich es außerdem leise wimmern.

Ich versuchte zu verdrängen, dass lauter seltsame Menschen um mich herum lagen. War es nicht ein wenig wie vor einigen Jahren, als ich mit anderen Jugendlichen wegen des Kriegs auf einen Landsitz gebracht wurde? Damals hatten wir auch mit mehreren Leuten in einem Raum geschlafen.

Allerdings hatte keiner von ihnen so einen kaltblütigen Ausdruck in den Augen gehabt wie dieser Glatzköpfige. Braylee, wie Monty ihn genannt hatte. Und an den lethargischen Flint auf dem Boden mochte ich auch nicht denken.

Ich wusste, dass ich so niemals einschlafen würde.

Alles war fremd. Ich studierte die schattenhaften Umrisse im Zimmer, versuchte mich auf den Geruch nach Wäschestärke zu konzentrieren und die anderen Duftmarken auszublenden. Erst nach Stunden schlief ich ein.

Doch es dauerte nicht lange, bis die Schreie mich wieder weckten.

Kommt Caitlin dem Geheimnis auf die Spur?

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